Sudden Fiction

Sudden Fiction eines Verwirrten

Ich entlaufe mir, entlaufe meiner Vergangenheit. Ich werde vierzig, und die Diskrepanz zwischen Prognose und Bilanz ist Selbstdistanz. Zwanzig Jahre sind abgelebt seitdem; eine längst vergessene Gewohnheit ergreift Besitz von mir. Alles um mich herum erscheint plötzlich vertraut; bin ich jemals fort gewesen? Jedes Haus erkenne ich wieder, jeden Bordstein, jeden Pflasterstein, jede Straßenlaterne; zielstrebig durchquere ich die Gassen, biege um Hausecken, stehe plötzlich vor meiner damaligen Stammkneipe; eingebrannt in dieses rotbraune Giebelhaus der Backsteingotik, flankiert von zwei Erkern links und rechts des Eingangs, saugt sie mich tief ein…

– Brigitte, schüttle dein Haar für mich! –

Ich gehe durch den Schankraum, gehe zu jenem Tresen in der unteren Bar, an dem ich immer saß, wenn ich mutterseelenallein ins ‚Oktober’ gegangen war. An der Wand zwischen den blechernen Reklameschildern hängt noch immer die Schiefertafel: Heute bedient Sie Patricia! Ich staune ob der frappanten Ähnlichkeit mit der von mir verlassenen, passiere ein maskulines mich musterndes Rosacea-Gesicht, setze mich auf einen Barhocker, bestelle ein großes Pils, und erstaune erneut, weil mir die Stimme meiner Thekennachbarin bekannt vorkommt. Während ich mein Bier trinke, beäuge ich sie heimlich von der Seite und durch den Spiegel, der vor uns an der Wand hängt, aber ich erkenne sie nicht. In diesem Spiegel treffen sich mehrmals die Strahlen unserer Augen. Wer bist du? Kennen wir uns? Brigitte hatte mich hier oft bedient. „Als Gott das Weib erschuf, hat er sie modelliert“, hatte ich zu Daniel gesagt, um ihn in dieses Lokal zu locken, und er hatte mir Recht gegeben. Ich trinke, blicke zur Seite, blicke die Frau an, blicke in zwar trübe, jedoch stahlblaue Augen, umgeben von einem wüsten Gesicht, aufgedunsen, vom Leben zerfurcht, umrahmt von dünnem grauem Haar. Dicke Tränensäcke schwingen über den Wangen, und der einst sicher wundervolle Mund: seine Lippen sind spröde, laden nicht zu Küssen ein; die Mundwinkel zeigen herab, doch diese Augen … sie schauen tief in mich hinein; diese Augen, ihre Blicke durchbohren mich. Ich lächle, doch sie verzieht keine Miene, wirft mir einen melancholischen Blick zu, und wendet sich ab von mir. Meine Blicke wandern mit schnellem Schritt an ihr herab. Rubens hätte dich geliebt! Ich zünde mir eine Zigarette an, denke, dass diese Frau wunderschön gewesen ist, bevor Leid und Kummer sie geschunden haben, als sich die Unbekannte einen Pastis bestellt, und Patricia sagt: „Kommt sofort, Brigitte!“ Ich schaue mit weit aufgerissenen Augen in diesen Spiegel. Mir wird schwindelig. Das ist nicht wahr! Das bist du nicht! Du bist nicht die Frau in die ich mich damals … Ich trinke, doch jeder Schluck würgt mich. Ich sauge an meiner Zigarette, huste. Ich schüttele leise den Kopf.
Ich leere mein Glas, bestelle ein weiteres Bier, erhebe mich von meinem Hocker und gehe hinunter zum Lokus. Mit bedächtigen Schritten steige ich im fensterlosen Halbdunkel die Stufen hinab. Auf den gräulichen Teppichmatten machen meine Schritte keinerlei Geräusch. Das Gemurmel des Schankraumes erlischt, wie die Flamme einer abgebrannten Kerze. An der Wand bemerke ich schemenhaft eine großformatige Fotografie. Ich trete heran, betrachte sie, glaube wieder in einen Spiegel zu blicken, denn ich schaue…in mein Gesicht! Nein, ich habe nicht zu viel getrunken, halluziniere nicht, deliriere nicht! Kurz vor dem Zugang zu den Toiletten hängt zwischen Bildern aus den Innenräumen der Kneipe, wie sie vor zwanzig Jahren ausgesehen haben, mein Portrait in schwarz-weiß, hänge ich, wie ich vor zwanzig Jahren ausgesehen habe, und rechts unten im Rahmen steckt unterhalb meiner Wange ein ebenso altes Foto von Brigitte. Mir stockt der Atem und ich schließe die Augen, spüre wie mein Herz pocht, wie der Schweiß auf meiner Stirn perlt, erinnere mich an diesen letzten Abend, an dem wir uns so lange unterhalten hatten, erinnere mich, weil es das einzige Gespräch zwischen uns gewesen war, erinnere mich, wie es in einen lebendigen Flirt gemündet hatte, dem ich erst keine Bedeutung beigemessen hatte, denn ich hatte geglaubt, das eine Frau ihres Formats niemals nähere Bekanntschaft mit einem Soldaten der Garnison machen würde, erinnere mich an diesen Abschied vor dem Kasernentor, erinnere mich an ihre Tränen, an ihre Flucht, an das Quietschen der Reifen als sie davongefahren war, öffne meine Augen, schaue mich an, sehe in meinem Gesicht ihre stahlblauen Augen und begreife alles, begreife den Abend vor zwanzig Jahren, begreife den Abschied, habe nach zwei Dekaden die Antwort auf meine Fragen, begreife diesen Blick von vorhin, begreife den Grund, warum ich hier hänge, warum wir dort oben nebeneinander sitzen. Ja, ich bin zufällig erschienen, damals wie jetzt, und mein Leben wächst aufs Geratewohl, wächst in alle Richtungen, wächst wie ein wilder Busch, und ich hatte damals Brigittes Signale nicht erkannt, so wie ich sie selbst vor zehn Minuten nicht erkannt habe, und mir wird klar, dass ich meinem Leben an jenem Abend vor zwanzig Jahren eine Richtung gegeben hatte, eine Richtung von der ich heute weiß, dass sie mich geradewegs in eine Sackgasse geführt hat, statt auf eine Autobahn.
Da steh’ ich nun, ich armer …
– und ich hoffe, dass Brigitte fort sein möge, wenn ich zurückkommen werde;
– und ich hoffe, ich werde zurückkommen, und es ist der Sommer vor zwanzig Jahren.

 

Platz 4 beim Putlitzer Preis 2011 – © André Krajewski

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